60 Jahre

‚‚Vieles kann man vergessen,
nicht aber die Liebe und die Scham.‘‘

BETTINA aus Gastarbeiter-Monologe

Inhaltsverzeichnis


Interview mit Michael Weber und Mesut Bayraktar (aus dem Programmheft 25.11.2021)

Mesut, warum ist es wichtig, Geschichten der sog. „Gastarbeiter“ zu erzählen, und wie bist du bei den Monologen vorgegangen?

Sie vereinigen thematisch, was wir heute in noch größerem Ausmaß erleben: Ausgrenzung, Ausbeutung, Entwurzelung, radikale Zerklüftungen von Biografien und die permanente soziale Angst. Von den Kämpfen der „Gastarbeiter“ können wir lernen. Daher ist das Stück so angelegt, nicht nur zu erinnern oder gar nostalgisch zu werden. Für mich war klar, dass es den Blick auf die Gegenwart schärfen muss. Daher verschmelzen Interviews, Streikprotokolle, Recherchen mit dichterischer Arbeit zusammen. 

Michael, was war dein Anstoß, die szenische Einrichtung des Stücks zu übernehmen?

Über die DIDF lernte ich Mesut kennen, der mir von seinem Text-Projekt erzählte. Eigentlich arbeite ich als Schauspieler, derzeit hier am Schauspielhaus in Hamburg; gelegentlich führe ich Regie. Das Thema ist wichtig, die Texte sind sehr gut, sie sind fürs Theater geschrieben – also dachte ich: Das muß auf eine Bühne. Das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg ist groß, platzmäßig das größte deutsche Sprechtheater. Vielleicht werden bei diesem Thema einige kommen, die sonst nicht oft dorthin gehen, die es nicht als „ihr“ Theater betrachten, oder die überhaupt nicht oft in ein Theater gehen. Es könnte also sein, dass sich an so einem Abend  unterschiedliche Lebensweisen, verschiedene Welten begegnen, so wie in den Geschichten des Textes auch. Und dann werden wir alle etwas davon haben – Die Zuschauer, die Schauspieler, der Autor und vor allem die Institution Theater.

Michael, wie hast du als junger Mann in den 1970ern und 80ern den migrantischen Kampf um Anerkennung erlebt? Gibt es ein prägendes Ereignis?

Ich bin 1958 geboren, 68 war ich 10. Wie viele bin ich ab dann als Jugendlicher mit dem Bewußtsein aufgewachsen, daß politische Auseinandersetzung Spaß macht und dass es wichtig ist, Haltung zu zeigen. Das Thema Migrantischer Kampf um Anerkennung und Teilhabe war deshalb immer präsent – im Jugendzentrum, in dem ich als Zivi gearbeitet habe, danach in der Gewerkschaft. Ganz persönliche Kontakte blieben aber vereinzelt. Prägend waren damals eher der Anti-Atom-Protest, eine Reise nach Majdanek, die Häuserkämpfe um die Hafenstraße in Hamburg. Einen sehr starken Eindruck haben dann die Filme von Yilmaz Güney auf mich gemacht – „Sürü“ und „Yol“ – noch heute habe ich viele Passagen präsent. Etwas später, über die Begegnung mit migrantisch geprägten Kollegen, mit Texten von Hikmet und anderen und bei den türkisch-deutschen Literaturtagen wurde die Auseinandersetzung damit dringender für mich.

Mesut, in deinem Essay vom 30. Oktober 2021 im »Neues Deutschland« schreibst du: „Nie mehr Gast sein. Das ist die Bürde meiner sozialen Herkunft.“ Was meinst du damit?

Der Kapitalismus zeichnet sich durch den biophysikalischen Bruch des Lebens mit den Mitteln zum Leben aus – der stumme Zwang. Die Mehrheit der Menschen muss ihre Arbeitskraft verkaufen, um zu überleben, mit der Bereitschaft, jederzeit Wohnort oder Arbeitsplatz zu wechseln, auch wenn es prekär wird. Kinder aus Arbeiterfamilien kennen diese Gewalt. Über Zukunft und Perspektiven entscheidet der Markt. Man wird Gast in seinem eigenen Leben – durch eine Kündigung, einen Krieg oder ein Anwerbeabkommen.

Michael, in jüngster Zeit zeichnet sich eine Repräsentationskrise des deutschen Theaters ab. Darum werden teils hitzige Debatten geführt. Inwiefern ist die Einbeziehung migrantisch-geprägter Perspektiven relevant für das Theater?

Das ist ganz grundsätzlich. Theater ist der Ort der gesellschaftlichen Selbstbefragung, viel mehr als TV und Kino. Auch wenn es manchmal nicht so aussieht, weil es auch eine bürgerliche Bildungsinstitution geworden ist. Gesellschaft, gesellschaftliche Entwicklungen bilden sich im Theater ab, in den Themen, in den Stücken, in den Aufführungen, auch und besonders, wenn es Neuinterpretation von sogenannten „Klassikern“ sind. Wenn es das nicht mehr leistet, wird’s sehr sehr langweilig. Theater hat – nicht nur, aber oft – mit Literatur zu tun, und das sind beides keine nationalen Kategorien, das ist alles von sich aus immer und überall multikulturell und international, und ist es auch schon immer gewesen. Alles andere ist Quatsch. Shakespeare, Moliere und Sophokles haben Stücke geschrieben lange bevor überhaupt die Idee des „Nationalen“ existierte, geschweige denn die Idee einer „Leitkultur“ und ähnlicher Unsinn. Das sind internationale Stoffe, internationale Autoren. Wir sind heute – endlich! –  eine Einwanderungsgesellschaft und deshalb brauchen wir auch ein Einwanderungs-Gesellschafts-Theater. 


Vom „Gastarbeiter“ zum politischen Subjekt und die DIDF

Das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei war in der jüngeren Geschichte Deutschlands der Beginn der Arbeitsmigration aus der Türkei. Von offiziellen Stellen wird dieses Ereignis als glückliche Vermählung inszeniert, sowohl in Berlin als auch in Ankara. Und es gibt sie, die Geschichte von Freundschaft, Liebe, Solidarität, verschmelzender Kultur und friedlicher Diversität. Jedoch weniger als Resultat politischer Handlung, denn als Ausdruck der Widerstandskräfte türkeistämmiger Arbeiterinnen und Arbeiter und ihren Familien, sowie solidarischen Mitmenschen, die sich trotz ausbeuterischem Kalkül, Ausgrenzung, gesellschaftlicher Spaltung, Rassismus und Gewalt immer wieder ihren Weg bahnten.

Die erste Generation türkischer Arbeitsmigranten nahm am sog. „Wirtschaftswunder“ teil – jedoch als „Gastarbeiter“. Denn das Abkommen sah die Beschränkung der Aufenthaltserlaubnis auf 2 Jahre vor, sodass Arbeiterinnen und Arbeiter dauerhaft mit neuen ersetzt werden sollten. Es gab keinen Deutschunterricht, keine Kultur- oder Sozialangebote, keinen zusätzlichen Wohnraum (die Gastarbeiterinnen und -arbeiter wohnten in Containerwohnheimen), keine demokratischen Rechte und weniger Lohn. Zudem war der Familiennachzug, anders als in den vorangegangenen Anwerbeabkommen, nicht vorgesehen. Von Anfang an zeigten sich Elemente rassistischer Praxis in der BRD im Umgang mit türkischen Arbeiterinnen und Arbeitern. Für die deutschen Unternehmer handelte es sich um ein durch den Staat eingeleitetes Migrationssystem, nach dem die ausländischen Arbeitnehmer billig und gefährliche Arbeit leisten konnten, um dann wieder das Land zu verlassen. Dennoch fanden Hunderttausende durch die befristete Auswanderung Perspektive und Hoffnung, die sich angesichts der Arbeitslosigkeit in der Türkei in soziale Wut und politischem Protest ausgedrückt hätten. In den 1960er Jahren spitzten sich nämlich die Klassenkämpfe in der Türkei zu.

Nach etwa zehn Jahren Koexistenz zwischen Türken und Deutschen sowie dem Schattendasein „braver Gastarbeiter“ am Rand der Gesellschaft brach im August 1973 in den Ford-Werken in Köln-Niehl erstmals ein vor allem von türkischen Beschäftigten getragener Kampf gegen menschenunwürdige und untragbare Lebensbedingungen aus: 7 Tage Streik bei Ford. Durch Entlassungen entstehende Mehrarbeit war der Auslöser für den Streik in der Montagehalle. Wenig später standen auch die Forderungen: „1 DM mehr für alle“. Außerdem wurde die Rücknahme der Entlassungen, die Herabsetzung der Bandgeschwindigkeit und die Verlängerung des Urlaubs von vier auf sechs Wochen gefordert. Als der Betriebsrat die Unterstützung verweigerte und den Streik für illegal erklärte, besetzten die Streikenden die Fabrik und wählten eine eigene Streikleitung. Dies war der Höhepunkt der etwa 400 nicht genehmigten Streiks dieser Zeit, an denen um die 300.000 Beschäftigte teilnahmen. Die türkischen Arbeiterinnen und Arbeiter hörten auf „Gastarbeiter“ zu sein. Sie wehrten sich gegen ihre ökonomische, soziale und kulturelle Ausgrenzung. Sie traten als politisches Subjekt hervor. Sie zeigten, Teil der hiesigen Klasse der Arbeiter zu sein und organisierten sich.

In diese Zeit fallen auch die ersten Gründungen türkeistämmiger Arbeitervereine. 1980 schlossen sie sich auf einem Gründungskongress zur Demokratik isci dernerkleri federasyonu DIDF, zur Föderation demokratischer Arbeitervereine zusammen. Anfang der 80er Jahre verstärkte sich zudem der Wunsch in Deutschland ansässig zu werden. Die DIDF führte fortan eine Politik für ein gutes Zusammenleben und Solidarität. Nicht die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten sollten in den Vordergrund gestellt werden. Bis heute hat die DIDF in mehr als 40 Städten selbstorganisierte Räume für ehrenamtliche politische Bildungs- Kultur und Sozialarbeit, sie führt ihre Kämpfe für ein gleichberechtigtes und menschenwürdiges Dasein fort und organisiert Begegnungen für ein offenes, solidarisches  Zusammenleben in Deutschland.


Das Anwerbeabkommen – Ein Stück türkisch-deutsche Geschichte. Aber wie kams eigentlich dazu?

Die 1950er Jahre standen im Zeichen des Wiederaufbaus nach dem zweiten Weltkrieg, der ein industrielles, kulturelles und menschliches Trümmerfeld in Deutschland hinterlassen hatte. Der im Rahmen vom »Marshall-Plan« mit milliardenschwerem US-Kapital stimulierte Wiederaufbau des bundesrepublikanischen Kapitalismus bedurfte entsprechend hoher Arbeitskräfte. Diese wurden durch Anwerbeabkommen zunächst aus Italien (1955), Spanien (1960) und Griechenland (1960) bezogen, darüber hinaus durch den anhaltenden Zustrom aus der Deutschen Demokratischen Republik (DDR).

Der Arbeitskräftemangel unter kapitalistischen Verwertungsbedingungen war ein zentrales Hemmnis zur Profitsteigerung und Kapitalanhäufung. Zudem stärkte der Kräftemangel, ökonomisch betrachtet, die Forderungen der Gewerkschaften. Reallohnsteigerungen und künftige Lohnforderungen konnten unter diesen Umständen nicht gedämpft werden. Das zeigt sich auch an den zu dieser Zeit gestiegenen Reallöhnen und erstaunlichen Errungenschaften einer 40-Std.Woche und der Senkung des Renteneintrittsalters.

Die Widersprüche zwischen den Interessen der Arbeiter und den der Unternehmer verschärften sich durch den Mauerbau im August 1961, der den Zustrom von Arbeitskräften stoppte. In dieser Situation sah das dritte Kabinett um Konrad Adenauer die Lösung in der Anwerbung türkischer Arbeiterinnen und Arbeiter. Das Abkommen wurde am 30. Oktober 1961 in Bonn unterzeichnet.

Dies war auch im Interesse der Regierenden und Herrschenden in der Türkei. Seit Jahrzehnten grassierte eine hohe Arbeitslosigkeit. Das Bevölkerungswachstum war höher als das Wirtschaftswachstum. Zudem litt die türkische Wirtschaft – ähnlich wie heute – an anhaltendem Handelsbilanzdefizit, sodass sie sich laufend beim ausländischen Kapital verschulden musste. Um den keimenden Protest der arbeitslosen Jugend im Inland zu ersticken, war die beste Lösung diese ins Ausland zu schicken. Zugleich versprachen sich die Herrschenden durch die arbeitende Jugend im Ausland Devisen, um das Handelsbilanzdefizit im Innern etwas auszugleichen. Und zu guter Letzt war die Türkei auch ein strategisch unentbehrliches NATO-Mitglied an der Südostflanke der damaligen Sowjetunion. In dieser Situation war das deutsch-türkische Anwerbeabkommen eine Win-Win-Situation für die Unternehmer und Politiker diesseits und jenseits des Bosporus.